Neuigkeiten

Donnerstag, 22. April 2021

Revolution ’89 zum UNESCO-Weltkulturerbe? Das ist uns nicht genug!

Am 21. April 2021 gab Stadtrat Thomas „Kuno“ Kumbernuß der €DU eine verbale Abreibung in Sachen Geschichtsverklärung. Die Fraktion der „Christdemokraten“ hatte gefordert, die Orte der Friedlichen Revolution zum UNESCO-Weltkulturerbe zu machen. Kumbernuß forderte folgerichtig die Erklärung der Revolution von ’89 zum INTERGALAKTISCHEN KULTURERBE.

„Wenn man aber sieht, mit wieviel Verve sowohl die CDU als auch die Stadtverwaltung der friedlichen Revolution gedenken möchte, fragt man sich, ob ein Gedenken allein auf der Erde nicht zu wenig wäre, denn solch einem Ereignis sollte in der gesamten Galaxie gedacht werden, ist es doch gleichzusetzen mit der Wiedervereinigung von Vulkaniern und Romulanern oder der Vernichtung des Todessterns durch Luke Skywalker.“

— Thomas „Kuno“ Kumbernuß, 21.4.21 in der Ratsversammlung Stadt Leipzig


Die komplette Rede zum Lesen und Nachhören:

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrte Beigeordnete, werte demokratisch gesinnte Ratsmitglieder, werte Zuschauerinnen des Livestreams, geschätzte Vertreterinnen der Wahrheitspresse, liebe friedliche Revolutionäre!

Wiederholt reden wir heute über die Wendezeit und wiederholt wird diese Zeit auf den Herbst 1989 reduziert. Und dabei wird wiederholt das Handeln Vieler unterschlagen, die sich Jahre, teils Jahrzehnte in Opposition zur DDR befanden und diese auch offen zeigten.

Der Aufstand vom 17. Juni 1953 sollte allen hier ein Begriff sein, aber wer von Ihnen hat sich eingehender mit der Leipziger Beatdemo vom 31. Oktober 1965 befasst? Damals wollten sich überwiegend junge Menschen auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz treffen, um gegen das Verbot von Beatmusik und den Verboten von Beatgruppen zu demonstrieren. Über 2000 Menschen trafen sich in der Innenstadt, diese Demonstration wurde sowohl rasch als auch brutal von einem massiven Polizeiaufgebot aufgelöst, Wasserwerfer, Gummiknüppel und Hunde wurden dabei eingesetzt. Über 260 Menschen wurden inhaftiert, 97 von ihnen wurden ohne Verfahren für einige Wochen zur Zwangsarbeit in die Braunkohle geschickt…

Die Wendebewegung in Leipzig kam 1989 nicht aus dem Nichts, sie hatte viele Vorläuferinnen, gerade auch in den 1980ern. Eine davon war die Kerzendemo vorm Capitol im Herbst 1983 zur Internationale Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmwoche. Zur Eröffnung trafen sich mehrere Jugendliche, um mit Kerzen still zu demonstrieren. Neben Kerzen trugen viele Menschen ein lila Halstuch, ein Symbol der damaligen Opposition. Es dürfte das erste Mal gewesen sein, dass in Leipzig offen Kerzen als Zeichen des Protestes getragen wurden. Wieder gab es brutale Festnahmen, einige der zumeist jugendlichen Demonstrantinnen erhielten Haftstrafen von über einem Jahr mit anschließender Abschiebung in den Westen. Dieser Protest wurde hauptsächlich von Punks und Anarcho-Hippies getragen. Einer von ihnen war Bernd Stracke, Sänger bei den Punk-Bands Wutanfall und HAU, später dann bei L’attentat, damals zu drei Monaten Haft verurteilt.

Und auch wenn es jetzt einige von Ihnen nicht hören wollen, aber gerade aus subkulturellen Zusammenhängen kamen viele Impulse für das, was später Wende genannt werden sollte. Zum Dank wurden diese Menschen gleich mehrfach schikaniert und terrorisiert: von der Stasi, von der Polizei, von den FDJ-Ordnungsgruppen. Aber auch von den Kolleginnen im sozialistischen Arbeitskollektiv, in den Diskotheken und auf offener Straße, wenn ihnen unverholen Hass ob ihrer Andersartigkeit entgegenschlug und nicht wenige der ganz normalen Biedermänner und Mitläufer denen, die ein Leben in Freiheit führen wollten, ein Leben in Konzentrationslagern empfahlen.

Ja, auch das war die DDR. Ein Leben unter Biedermännern und Mitläufern. Es waren diese Biedermänner und Mitläufer, die den Erhalt der DDR beförderten. Diese Biedermänner und Mitläufer waren 1987 und 1988 nicht bei den Olof-Palme-Gedenkmärschen an der Pleiße anzutreffen. Sie waren es aber, die zur Kommunalwahl 1989 brav ihre Wahlzettel falteten und ohne zu murren in die Urne steckten. Diese Biedermänner und Mitläufer waren auch nicht beim Liedermacherfestival im Sommer 1989 in der Leipziger Innenstadt anzutreffen, als viele Teilnehmende und Organisatorinnen verhaftet wurden. Diese Biedermänner und Mitläufer waren auch nicht dabei, als nach den Gebeten in der Nikolaikirche die ersten Montagsdemos stattfanden. Sie kamen erst Oktober/November 1989, als es nicht mehr um mehr Demokratie und Pressefreiheit ging sondern ihnen nur wieder um den eigenen Vorteil. Dann das mag der Mitläufer: Mitlaufen, seinen Vorteil sichern, Bananen, ein großes Auto und einen Westfernseher. Und auf vermeintlich Schwächere runterschauen.

Denn auch das ist ein Teil der Wahrheit: Diejenigen, die die Wende eingeleitet haben, sind nicht diejenigen, die diese für ihren eigenen Vorteil nutzten. Viele, die damals auf die Straße gingen, wollten kein vereinigtes Deutschland! Sie wollten eine freie Gesellschaft, frei von Bevormundung, frei von Unterdrückung, frei von Stacheldraht, aber auch frei von kapitalistischer Ausbeutung und frei von nationalistischem Gedankengut. Aber gerade diese nationalistische Stimmung brach sich ab November 1989 immer mehr Bahn eingehend mit einer schwarz-rot-goldenen bis schwarz-weiß-roten Besoffenheit, auch und besonders von Biedermännern und Mitläufern.

Der oben erwähnte Bernd Stracke, 1986 von der BRD freigekauft und im November 1989 in Mexico, sagte einmal auf einer Veranstaltung, was er dachte, als er erfuhr das die Grenzen offen sind: „Scheiße, jetzt kommen die alle rüber. All diejenigen, die mir das Leben in der DDR zur Hölle gemacht haben. Die ganzen Spießer, sie kommen jetzt alle rüber…“

Zu den ungeschilderten Momenten der Wendezeit gehören auch die faschistischen Überfälle. Exemplarisch soll hier die Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 erwähnt werden. Zwischen 23:00 und 23:30 Uhr bewegten sich die ca. 150 Neonazis in die Innenstadt. Sie waren unter anderem mit Baseballschlägern, Messern und Schreckschusspistolen bewaffnet. Auf dem Markt störten sie das Konzert der Band Renft, griffen Passantinnen an und jagten Migrantinnen. Am Gewandhaus kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei, auf die die Neonazis Steine warfen. Im weiteren Verlauf kam es zu einem Tränengas-Anschlag auf die Moritzbastei. Kurz nach den Auseinandersetzungen in der Innenstadt griff der Mob das soziokulturelle Zentrum „Die Villa“, damals noch in der Karl-Tauchnitz-Straße, an. Das Zentrum war übrigens im Frühjahr 1990 aus einer Besetzung der Räumlichkeiten der FDJ-Kreisleitung entstanden.

Meine Damen und Herren, ja, die Wende war ein historisch bedeutsames Ereignis, das steht außer Frage. Allerdings sollten wir verstärkt auch den Ereignissen und den Menschen gedenken, die halfen, die Veränderungen von 1989 zu ermöglichen. Und wir sollten auch kritisch hinterfragen, warum immer nur nachdenklich bis freudetrunken den Herbstereignissen gedacht wird, warum aber nicht die negativen Ereignisse der Wendezeit thematisiert werden. Diese Aufarbeitung ist dringend nötig, bevor wieder einmal die heilige Kuh der friedlichen Revolution durchs Dorf getrieben wird, um daran mit einer weiteren Huldigung zu erinnern, aber auf Dauer eine Beliebigkeit darstellen könnte.

Diese Mal also UNESCO–Welterbe. Ja, kann man machen. Wenn man aber sieht, mit wieviel Verve sowohl die CDU als auch die Stadtverwaltung der friedlichen Revolution gedenken möchte, fragt man sich, ob ein Gedenken allein auf der Erde nicht zu wenig wäre, denn solch einem Ereignis sollte in der gesamten Galaxie gedacht werden, ist es doch gleichzusetzen mit der Wiedervereinigung von Vulkaniern und Romulanern oder der Vernichtung des Todessterns durch Luke Skywalker.

Live long and prosper!